Dies ist ein Gastartikel von Anchu Kögl. Anchu lebt seit Februar dieses Jahres in einer der größten Städte der Welt: São Paulo, Brasilien. Wenn er nicht gerade an seinem Blog AnchuKoegl.com schreibt, arbeitet er für eine Online Marketing Agentur oder erkundet Brasilien. In dem folgenden Artikel erzählt Anchu wie das Schicksal eines Brasilianers sein Leben beeinflusste.
Zwei Schüsse. Er war 23 Jahre alt, geboren in São Paulo, und auf dem Weg nach Hause. Sein Leben lag noch vor ihm: Er hatte Träume, Ziele, Familie, Freunde. Wie du und ich. Er wurde hingerichtet, vor der Haustür zweier guter Freunde von mir. Es geschah kurz vor Mitternacht, eine halbe Stunde nachdem meine Freunde nach Hause kamen.
„Anchu, das war ein Geräusch, das wir noch nie zuvor gehört hatten. Und nie vergessen werden. Es hätte auch uns treffen können“.
Ich nickte. Es stimmt – es hätte auch meine beiden Freunde erwischen können. Plötzlich war der Tote kein Fremder mehr, sondern einer von uns.
Brasilien ist nicht ohne – vor allem São Paulo. Ich fühle mich nie wirklich sicher, ich bin immer ein bisschen angespannt, vor allem nachts. Mich hat man auch schon versucht auszurauben – allerdings in Rio de Janeiro.
Die Tage nach dem Vorfall haben wir viel darüber geredet. Sollte ich vorsichtiger sein?, fragte ich mich. Sollte ich nachts nicht mehr alleine rausgehen? Sollte ich gar nicht mehr ausgehen? Im Durchschnitt sterben jeden Tag zwei Menschen im Verkehrschaos von São Paulo. Ermordet werden weniger. Sollte ich nicht mehr Taxi fahren, nicht mehr bei Rot über die Ampel gehen? Wie groß ist die Gefahr wirklich?
Ich habe viel nachgedacht und hatte eine Erkenntnis, die mein Leben sehr beeinflusst. Ich habe verstanden und verinnerlicht, das Unsicherheit zum Leben dazu gehört.
Klar, die Wahrscheinlichkeit, dass mir etwas in Südamerika zustößt, ist größer als in Deutschland. Aber totale Sicherheit? Die gibt es nicht. Ich kann in Brasilien Opfer eines Raubüberfalls werden, genauso kann ich in Berlin von der Tram erwischt werden.
Trotzdem streben wir alle nach Sicherheit – wenn auch oft in einer anderen Form. Wir wollen eine feste Beziehung, einen festen Wohnort, einen festen Job. Alles fest, weil fest irgendwie sicher ist. Unser Wunsch nach Sicherheit ist so groß, dass er unser Leben maßgeblich beeinflusst.
Wir wählen oft nicht das Studium, das wir wollen, sondern eines, das uns sichere Jobaussichten bietet. Wir gestehen unserer großen Flamme nicht die Liebe, sondern bleiben bei unserem aktuellen Partner, weil es sicherer scheint.
Während wir eine illusorische Sicherheit anstreben, lebt unser Leben uns, nicht wir unser Leben. Ich bin nicht der Meinung, dass wir leichtsinnig sein sollten oder gar unvorsichtig. Das sind sowieso die Allerwenigsten. Ich will darauf hinaus, dass unser Streben nach Sicherheit uns nicht davon abhalten sollte, unser Leben so zu leben, wie wir es uns wünschen.
Mit 21 Jahren habe ich mein Studium im Wirtschaftsingenieurswesen aufgenommen. Ich wählte das Studium damals, weil es beste Berufschancen bietet – also scheinbare Sicherheit. Vier Jahre später habe ich meinen Bachelorabschluss gemacht und mir endlich eingestanden, dass dieser Beruf nichts für mich ist. Dieser Karriere nachzugehen, würde mich höchstwahrscheinlich todunglücklich machen. Das war letztes Jahr im September.
Seitdem überlege ich, was ich wirklich machen will – wofür ich brenne. Ich hatte schon seit Längerem eine Vorahnung: Ähnlich wie bei Patrick, ist es mein großer Wunsch, Menschen zu inspirieren und zu helfen.
Seit Mai dieses Jahres, nur einige Wochen nach dem oben beschriebenen Vorfall, fasste ich einen Entschluss: Ich startete meinen Blog über Dating und Männlichkeit. Dies ist ein ziemlich überfüllter Markt, und trotzdem strebe ich mit diesem Blog die Selbstständigkeit an – indem ich Männern helfe, das Liebesleben zu haben, das sie sich wünschen.
Ich schreibe sehr persönlich und filterlos und habe damit eine Marktlücke entdeckt. Bis jetzt habe ich eine sehr treue und wachsende Leserschaft, aber Sicherheit oder gar die Gewissheit, dass es funktionieren wird, habe ich nicht. Ich lebe in Unsicherheit.
Niemand kann mir garantieren, dass ich jemals einen Cent mit meinem Blog verdienen werde, geschweige denn, davon leben kann. Aber, welche Sicherheit und Gewissheit würde mir ein Beruf als Wirtschaftsingenieur bieten? Die Sicherheit und die Gewissheit, dass ich mein Leben nicht so lebe, wie ich es mir wünsche.
Auf eine Karriere zu verzichten und mich in die Ungewissheit zu stürzen, war eine der schwersten Entscheidungen meines Lebens.
Was hat mich trotzdem dazu bewogen, diese Entscheidung zu treffen? Die Erkenntnis, dass Unsicherheit zum Leben dazu gehört und, dass mich die Sehnsucht nach Sicherheit nicht davon abhalten sollte, das zu tun, was ich wirklich will.
Ich überzeugte mich also davon, dass ich alles gewinnen könne, wenn ich es nur versuche. Ein selbstbestimmtes Leben, so wie ich es mir wünsche.
Würde ich wirklich scheitern, wäre der Schaden relativ gering. Dann wäre ich ein 30-Jähriger gescheiterter Dating-Blogger. Im schlimmsten Fall müsste ich Hartz IV beantragen und mich neu orientieren. Nicht unbedingt ein Traum, aber auch kein Weltuntergang.
Mache ich mir trotzdem Sorgen? Ja. Ich habe nicht nur Sorgen, sondern ich habe Angst. Und zwar jeden einzelnen Tag. Ich stehe auf und frage mich jedes Mal aufs Neue: Anchu, worauf hast Du Dich da eingelassen? Die Unsicherheit, nicht zu wissen, ob es jemals funktioniert, ist unheimlich bedrückend.
Doch dann gehe ich kurz in mich und spüre, dass es tausendmal bedrückender wäre, nicht das zu machen, wovon ich träume. Mein Leben kann schon morgen vorbei sein und dann gäbe es nur eine Sache, die ich mir nicht verzeihen könnte: Es nicht so gelebt zu haben, wie ich es mir wünsche.
Anchu Kögl reist um die Welt und schreibt über Frauen, Sex und Männlichkeit. Intensiv, filterlos und schockierend direkt. Sein Blog: www.anchukoegl.com
Genau das ist es! Wir sollten unser Leben, Leben und nicht das Leben uns! Was bedeuten schon Geld und Ruhm wenn wir morgen sterben?! Viel wichtiger ist es doch die eigenen Träume zu leben, im Moment zu leben um am Abend ins Bett zu gehen und sich selber sagen können: „dieser Tag, war für mich ein sinnvoller Tag!“
Wenn du mit Freunden zusammen sitzen kannst und den Zusammenhalt fühlst oder wenn du auf dein inneres hörst und deine Träume verwirklichst, oder die Welt bereist um andere Kulturen kennen zu lernen… all dies sind Werte die dich als Menschen weiterbringen! Und am Ende des Lebens kann man zurückschauen und sagen: „meine Leben hatte einen Sinn und ich war/bin glücklich!“
Vielen Dank für diese tollen Worte und einen grossen Respekt vor dem was du tust!
…und, „Angst“ gehört zum Leben, denn man wächst nicht nur an den schönen Gefühlen…
In dem Sinne – live your life
Guter Artikel.
„Auf eine Karriere zu verzichten und mich in die Ungewissheit zu stürzen, war eine der schwersten Entscheidungen meines Lebens. Was hat mich trotzdem dazu bewogen, diese Entscheidung zu treffen? Die Erkenntnis, dass Unsicherheit zum Leben dazu gehört und, dass mich die Sehnsucht nach Sicherheit nicht davon abhalten sollte, das zu tun, was ich wirklich will.“
Wie viele Menschen gibt es, die bewusst eine Karriere anstreben und gezielt danach handeln? Wie viele Menschen „machen einfach“ und daraus ergibt sich dann „etwas“? Und wie viele Menschen gehen einen völlig anderen, „ungewöhnlichen“ Weg?
Auch wenn es in der letzten Kategorie nur 5 oder 10% sind, absolut gesehen wären das Millionen Menschen. Wenn Du ein „anderes“ Leben lebst, wirst Du viele gleichgesinnte treffen – und merken, dass es davon mehr gibt, als auf den ersten Blick ersichtlich.
Alles Gute auf Deinem Weg.
– Das neue Dream Theater Album vom Sep diesen Jahres könnte dabei helfen ;-)
Ralf
Lieber Anchu, Du brauchst keine Angst zu haben. Vertraue einfach Deiner Intuition und dem Leben. Wenn Dein Leben vorbei sein soll, dann ist es so. Ich kann nur von mir selbst reden, es gab in meinem Leben viele Situationen die Spitz auf Knopf gingen. Irgendwann wurde das zählen einfach zuviel! Also, Take it easy. Vergiss die Angst und geniesse das Leben, das Sein, das auch Du in allem findest. vg, andy
Hallo an alle!
Danke für die motivierenden Worte.
Ich denke, dass jeder, der diesen oder einen ähnlichen Weg gegangen ist, es schwer hatte, aber gleichzeitig weiß, wie lohnenswert es ist.
Je mehr ich meinen eigenen Weg gehe, desto mehr bewundere ich Menschen, die das vor mir getan haben und damit die Welt verändert haben. Sei es mehr oder weniger.
Viele Grüße,
Anchu
Zunächst einmal: Super Blog Patrick! Seit ich dein Interview im Spiegel gelesen habe, schaue ich nun öfter rein, um Tipps für meine nächste Reise einzuheimsen. Und heute springt mich auf der Startseite doch tatsächlich ein Gastartikel von meinem lieben Kollegen Anchu an!!! Was für eine Überraschung! Ganz großes Kompliment für diesen tollen Artikel Anchu! Der Spagat zwischen Sicherheit und Unabhängigkeit ist schwierig und jeder muss für sich herausfinden wie viel Gewicht beide Komponenten haben. So findet jeder seinen Weg – großartig, dass du deinen gefunden hast. Ganz liebe Grüße aus Berlin! :)
Kleine Welt! :-)
Ich hoffe das ist ein Grund mehr für Dich, hier weiter regelmäßig mitzulesen.
Ich stimme deinen Ideen zum alten Dilemma – Sicherheit vs. Freiheit/ Unabhängigkeit – zwar zu, aber ich finde es erschreckend, dass deine Selbstverwirklichung nun darin liegt, Datingblogs zu schreiben… Es wäre schön, wenn du als junger Mensch noch andere Ambitionen hättest, vielleicht sogar politisch wärst und etwas in dieser Welt verändern willst. Die von dir beschriebene Kriminalität in Sao Paulo hat ja auch Ursachen wie Armut, Rassismus, stark ungleiche Machtverhältnisse (gerade in Brasilien!)… Vielleicht entdeckst du ja noch andere dir Sinn gebende und dich erfüllende Aufgaben als Datingblogs. Oder du bist ehrlich und sagst, dass das Bloggen Mittel zum Zweck ist, um reisen und die Welt entdecken zu können.