Als ich mich dem kleinen Kassenhäuschen nähere, sehe ich zunächst niemanden. Ich muss schon eintreten, um ein Ticket kaufen zu können. Optik und Geruch erinnern mich sofort an meine Kindheit in der DDR. Ja, hier bin ich richtig.
Nach beinahe 10 Tagen in Tallinn ist die ältere Frau in dem Kassenhäuschen die erste Estin, die kein Wort Englisch versteht. Sie erzählt irgendwas auf Estnisch oder Russisch, wer weiß das schon so genau? Ich zucke mit den Schultern. Wir werden uns trotzdem schnell handelseinig, denn was kann ich hier schon anderes wollen, als ein Ticket für Patarei?
Zwei Euro für ein Stück Sowjet-Geschichte wechseln den Besitzer. Bevor ich losgehe, drückt sie mir eine Stirnlampe in die Hand. Was ich damit in einem Museum soll, wird sich mir erst kurz darauf erschließen.
Ich bin mal wieder in den Gefängnissen dieser Welt unterwegs. Diesen Satz kann ich mir erlauben, denn mir fallen sofort vier Gefängnisse ein, die ich allein in den letzten 10 Monaten besucht habe. Darunter zum Beispiel Alcatraz in San Francisco. Der dunkle Tourismus ist also mein Ding.
Eintritt in eine Zeitmaschine
Die einstige Seefestung Patarei wurde zwischen 1920 und 2002 als Gefängnis genutzt. Hier fanden auch Hinrichtungen statt. Die Letzte übrigens 1991 – das Jahr, in dem sich Estland von der Sowjetunion unabhängig erklärte.
Patarei bietet einen guten Einblick in das Gefängnisleben der Sowjetzeit. Nicht nur das Kassenhäuschen erinnert an die DDR. Das gesamte Gefängnis fühlt sich an wie eine Zeitreise. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich vor allem nicht auf den Gedanken kommen, dass der Gefängnisbetrieb erst seit 2002 ruht. 1987 fände ich bei dem Anblick plausibler.
Patarei wirkt wie ruckartig verlassen. In den meisten Räumen wurde einfach alles stehen und liegen gelassen. In diesem Sinne ist Patarei das Gegenteil von Alcatraz: Hier wurde nichts für den Tourismus aufpoliert, es gibt keine Audio-Tour und nur wenige Touristen. Stattdessen scheint jemand entschieden zu haben, „Museum“ ans Tor zu schreiben, den Besuchern eine Taschenlampe in die Hand zu drücken und sie dann ins Dunkel zu schicken!
Das Erdgeschoss ist tatsächlich äußerst düster und fühlt sich eher wie ein Keller an. Ohne Taschenlampe gibt’s hier nicht viel zu sehen. Weiter oben wird es heller, doch egal ob ich die dritte Etage erkunde oder über den Hof spaziere, die Trostlosigkeit dieses Ortes ist immer unmittelbar. Über die Krankenstation denke ich besser gar nicht erst genauer nach. Sie hätte sich bestens als Kulisse für die Filme SAW I-VII geeignet.
Wieder draußen im heutigen Tallinn ist alles viel freundlicher. Die Sonne scheint und ich trinke einen Espresso in der Strandbar, die sich gleich ans Gefängnis anschließt. Auf der Website wirbt diese Bar damit, eine der wenigen Locations in Tallinn mit Meerblick zu sein. Das ist tatsächlich wahr, denke ich mir, als ich auf einem Liegestuhl liege, den Espresso schlürfe und durch den Stacheldraht die Fähren in den Hafen einlaufen sehe.
So ähnlich muss es also damals den Gefangenen gegangen sein. Nur ohne Espresso, ohne Liegestuhl, ohne Sonne im Gesicht und ohne die Gewissheit, jederzeit durch das große Tor wieder in die westliche Welt zu gelangen.
Informationen zu Patarei
Patarei ist nur im Sommer (Mai bis September) geöffnet, täglich 12-19 Uhr. Der Eintritt kostet 2 Euro, für die Stirnlampe werden 5 Euro Pfand verwahrt. Die angeschlossene Strandbar ist abends bis 21 Uhr geöffnet.
Während der Öffnungszeiten kann man das Gefängnis auf eigene Faust erkunden. Innerhalb des Museums gibt es jedoch keinerlei Informationen und auch die Infos in der offiziellen Broschüre (1 Euro) passen auf ein A5-Blatt. Wer mehr erfahren will, sollte also eine Tour organisieren. Das ist auf Anfrage für kleine Gruppen möglich.
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Ah Klasse!
Als ich im Mai dort war, war leider geschlossen. So konnten wir nur ein paar Fotos durch die Gitterstäbe machen. Jetzt weiß ich, was ich verpasst habe
Hallo Patrick,
ich bin oft in Tallinn und kenne diese Stadt ganz gut – mit ihren Sonnenseiten und Schattenseiten. Das Patarei Gefängnis wirkt auf mich immer wieder deprimierend. Die Gefangenen hatten in diesem Knast niemals auch nur eine Minute für sich. Egal, was sie angestellt haben, hier war ganz sicher die Hölle auf Erden.
Viele Grüße
Birk
Hallo Freunde,
ich war letzte Woche da, alles war verschlossen.
Die Frau vom Wachdienst sagte, der Knast ist für Besucher geschlossen, zu gefährlich weil baufällig…
Viel Glück,
Thillo Gehrke
Oh, das ist aber schade!
Waren im Juli dort. Wird momentan alles abgerissen, es sollen dort Wohnungen enstehen.
Ich war sonntag da. Rein konnte man nicht, aber durch einige fenster schauen. Ist schon deprimierend